Sonntag, 16. Juni 2013

vom endlich erwachsenwerden und modischem mädchenbleiben.

 
Wenn man interessiert Politik-, Wirtschafts- und Feuilletonseiten seriöser Zeitungen liest, nine-to-five arbeitet und sich ständig ausmalt, wie man in weniger als einem halben Jahr sein Leben in ______________ (hier den Namen einer norddeutschen Großstadt einsetzen) organsiert bekommt, wird man wohl erwachsen - sofern man es noch nicht ist. Andere Indizien: Baumwollbekleidung statt Polyesterplastik, tiefsinnige Fragen bei Anblick des Halbmondes ("Glaubst du, die amerikanische Fahne steckt da noch drin?") und eine praktisch-strenge Bobfrisur.
Doch - siehe da - noch ist die kindliche Tollpatschigkeit nicht passé. In meinem Übermut, der sich aus der Erkenntnis, dass Online-Studienbewerbungen ja lächerlich unkompliziert sind ergab, habe ich mich versehentlich auf Logistik beworben - und die Chancen, genommen zu werden, sind unverschämt gut. (Neugierige können an dieser Stelle gerne spekulieren, auf welches Fach ich mich ursprünglich bewerben wollte. Tipp: Ich bin mit der Maus um eine Zeile nach unten verrutscht ... )  
 
 
Auch in einem nicht irrelevanten Bereich meines Lebens werde ich wohl nie erwachsen: in der Mode. Bunte Blumenkleider gegen blaue Baumwollblusen tauschen? Seriös-cleane Schnitte statt süßer Spitze? Hosenanzug und Hemdblusenkleid? 
"Grrr, nicht in  diesem Sommer" - genau das flüstern die folgenden fünf Neuzugänge in Kleiderschrank/Schmuckkiste/Schuhregal.
 
1. Der meerfarbene Cardigan, der in der nächsten Zeit hoffentlich zusammengeknüllt in der Strandtasche verbleibt. Zu fünfundsiebzig  Neunzigsteln ein Geschenk zum Abitur - aus einer kleinen Boutique.  
2. Der hübsch anzusehende Lebensbegleiter mit Herz. Wird noch gesucht. Übergangsweise probiere ich es mit dem Pandora-Ring, der ebenfalls ein Geschenk zum Abitur war.
3.  Der sommerliche Duft. Ich stehte total auf die Düfte von Marc Jacobs - und das nicht nur aufgrund der fantasievollen Flakons. Der Essence-Duft "Girls on tour" schlägt in eine ähnliche Kerbe - nicht aber ein so großes Loch in den Geldbeutel.  
4. Die rosarote Brille. "Baby, put on heart-shaped sunglasses, cause we're gonna take a ride", hauchte Lana del Rey in Diet Mountain Dew. Recht - und Stil - hat sie. Bijou Brigitte sei Dank sieht meine Umwelt jetzt herzig aus - und mich irgendwie irritiert an.
5. Die Schuhe, die sowohl zu (noch) winterblassen als auch zu (noch nicht) sommerbraunen Beinen passen. High-Fashion-Zungen flüstern an dieser Stelle sicherlich, dass Ballerinas mindestens seit 2010 schon wieder out sind. Ich ignoriere, schäme mich an dieser Stelle dennoch ein wenig, denn die Schühchen stammen tatsächlich aus einem dieser Billig-Plastik-Schuhläden, in denen irgendwie nur Musik von 50 Cent läuft. ♥ 
 


Montag, 10. Juni 2013

das/die bessere // romanauszug

Abifeierlichkeiten und der dazugehörige Stress sind nicht mehr Zukunft, sondern Vergangenheit. Heißt übersetzt: Ich kann mich jetzt in Ruhe auf mein Praktikum beim Radio konzentrieren - und mich endlich wieder guten Gewissens dem Schreiben verschreiben, denn bis zum Studienbeginn hätte ich den Punkt "Roman fertigstellen" gerne abgehakt. (Wobei To-Do-Listen und ich nicht immer eine gewinnbringende Kombination sind ... )
 
Im Café sagte er, dass er die Vorstellung möge, in den Sechzigern mit den Existenzialisten in einem ebensolchen gesessen zu haben. Am Fenster, dort, wo sich die eigene Erscheinung – ganz typisch in einen schwarzen Rollkragenpullover gehüllt - mit der der vorbeieilenden Passanten überlagere.
Ich bestellte ein Stück Mohnkuchen und ein Wasser. Sein schwarzer Rundausschnitt-Pullover malte seine Augenschatten dunkel.
Die Wände waren bedeckt von Landkarten. Grün und Blau. Blau-Grau. Rote Punkte, denen es gelang, Millionen von Menschen zu repräsentieren. Gradnetze, gedachte Linien als Produkt der menschlichen Fantasie und zugleich als Erzeugnis der von Menschen geschaffenen Geographie. Kleinste Flächen detailreich vermessen – viele deutlich größere einfach vergessen. Städte und Ländernamen klangen immer verführerischer, exotischer je weiter sie von diesem Punkt im Norden Deutschlands, der mein Sein und seines und das einer weiteren Millionen Menschen auf die Fläche, die kleiner als ein einziger Quadratzentimeter war, komprimierte, entfernt waren. Weit gereist war ich nie. Nie in meinem Leben. Deutschland war stets höchstens eine Staatsgrenze entfernt gewesen, egal, ob von der Bretagne, der italienischen Adriaküste oder von der Stadt aus betrachtet, an deren Saum Kattegat und Skagerrak aufeinander einpeitschten.
Doch Horizonterweiterung benötigte keine vierstellige, gar fünfstellige Anzahl an Kilometern, die jede Zelle, jedes einzelne Atom des Körpers auf Luft-, See- oder Landweg zurückgelegt hatte, sondern funktionierte auch in einem Hamburger Café.
Die Voraussetzungen jedoch ähnelten sich: Mut war gefragt, benötigt und essenziell – ebenso ein Plan.
„Wie würdest du dich selbst mit drei Worten beschreiben?", fragte ich.
„Auf der Suche", antwortete er und seine Mundwinkel zogen sich in einem Anflug von Selbstironie, die ich nicht zu handhaben wusste, unmerklich nach oben.
„Wonach?"
„Nach dem Besseren, schätze ich."
Ich fragte mich ungewollt, ob ich dazu befähigt war, das Bessere zu verkörpern. Oder eher: die Bessere.
 
 

Samstag, 8. Juni 2013

(diy) das abiballkleid

Sommer 2070. Der Schaukelstuhl wippt. "Oma, erzähl doch was von deinem Abiball!" 
Der Schaukelstuhl wippt weiter. Beschwingter. 
Womit sie anfangen solle? Beim selbstgeschneiderten Kleid aus grüner Seide, das mehr Stoff, Zeit und Nervenzusammenbrüche als erwartet eingefordert hatte? Die letzte Naht gut 48 Stunden vor dem Ball genäht, die letzte Naht gut eine Stunde vor Ballbeginn ausgebügelt. Zusammen mit Glitzerhaarband, Retro-Clutch und Wasserwelle habe sich ein Zwanziger-Jahre-Look ergeben. (Wobei damit keinesfalls die Zwanziger-Jahre gemeint seien, in denen Google die perfektionierte Version seiner Datenbrille auf den Markt geworfen hatte.) Man habe getanzt, geweint, gelacht und eine wirklich gute Zeit gehabt. Irgendwann Tanzparkett unter nackten Füßen. Rotwein im Blut und blutroter Lippenstift am Weinglas. Melancholie und Wangenküsse. Schöne letzte Worte. Pures Vermissen. Um 2:57 h als alle auf der Tanzfläche gestanden und mehr oder minder schön "Angels" von dem damals sehr bekannten Sänger Robbie Williams gesungen hatten, habe sie den Sinn der Redewendung "mit einem lachenden und einem weinenden Auge" nicht nur begriffen. Sondern auch gelebt.  
 

Ach, und die Schreibmaschine, die noch immer auf ihrem Tisch stehe, die habe sie am selben Tag geschenkt bekommen. Ganz unverhofft. Monate zuvor habe sie die Konjunktivkonstruktion "hätte gerne" mit dem Nomen "Schreibmaschine" und dem Adjektiv "alt" kombiniert - ohne jegliche Absichten oder Aufforderungen. Und auf einmal habe die Schreibmaschine auf dem dazugehörigen Schreibtisch gestanden. Im Übrigen ein Relikt der Zwanzigerjahre. Nein, nicht denen mit der Datenbrille.   
 
(Glitzerhaarband und Clutch sind von Bijou Brigitte und die Schuhe von Zara.) ♥